Ein Kind. Latenz. |
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Winzig war das Dorf, in dem ich
aufwuchs und doch erschien es mir riesig, so viele Geheimnisse waren in
seinen wenigen Häusern verborgen. Ein Neubaublock mit nebeneinander
aufgereihten Schornsteinen, vier für vier Aufgänge, war das größte
Gebäude, die LPG hatte es irgendwann für die ihre Arbeitskräfte
errichten lassen, die aus der Stadt kamen oder aus anderen kleinen Dörfern.
Darunter Traktoristen, was ein solider Beruf war, aber daß die Melker
Schweizer genannt wurden, habe ich nie eingesehen. Die Schweiz war doch
ein entferntes Land, über das in der Aktuellen Kamera, halb acht im
Fernsehen der DDR, das einzige Programm, nie berichtet wurde. Dafür war
im Fernsehen schon mal die Kooperative Abteilung Pflanzenproduktion aus
dem Nachbardorf. Die Dorfstraße verlief in einer Neigung am
Buswendeplatz vorbei hinunter zu dem kleinen Graben, den eine Brücke überquerte,
die den Weg nach Bittersberg trug, eine ehrfurchtgebietende
Ortsbezeichnung, die doch keinen Ort bezeichnete, sondern ein paar Gehöfte,
die verstreut lagen, einige wohl auch verlassen. Aber bitter und Berg in
einer Gegend, wo alle Orte auf -ow endeten, Bartow, Burow , Klempenow,
Janow und so weiter und sich keine Berge fanden bis auf den Klatzower
Berg, der sich vor der Kreisstadt erhob und nicht mehr als Berg
akzeptabel war, seit ich den Thüringer Wald gesehen habe, Anhöhe genug
immerhin, um, wenn sich die Ikarus-Busse aus den fünfziger Jahre auf
dem Rückweg mit vielen Frauen in Kopftüchern und mit Netzen voller
Waren aus dem Konsum-Landkaufhaus den Hügel hinauf quälen mußten,
alle einander anblickten und immer die gleiche Besorgnis äußerten in
der gedehnten Sprache der Gegend „dis
mål wedd hei’ woll liggenblev’n“. Eine Sprache, in der immer Ruhe
war, die keiner Erregung, keinem Zorn Ausdruck verleihen konnte. Und
doch, gelegentlich, wenn die Straße im Winter überfror, mußte der
Fahrer Sand streuen, um den durchdrehenden Rädern Halt zu verschaffen,
er fluchte und alle guckten skeptisch. Aber ich greife vor, denn in die
Kreisstadt kamen wir selten, und sie war eben durch den Bus von meiner
Welt getrennt oder durch einen der schweren Lastkraftwagen, in denen
meine Eltern mich zu Einkaufsfahrten in die umliegenden bedeutenden Orte
Demmin und Grimmen mitnahmen. Die enormen Tatra-Wagen nahm mein Vater am
Wochenende von seiner Arbeit mit nach Hause, schon ihre Türen lagen so
hoch, daß ich hineingehoben werden mußte und Angst hatte,
herunterzuspringen. Aus dem Kipper hatte man einen unheimlichen Blick
auf alle anderen, so hoch und gleichzeitig verbunden mit den Vibrationen
des Motors, die den großen Schalthebel zittern machten, wenn mein Vater
ihn nicht gerade bediente. Der Kindergarten am Rande des Dorfes hatte
eine niedrige Steinmauer um einen Grashof, auf dem eine einsame Schaukel
stand, die meistens zerrissen war. Ich ging gern hin, glaube ich mich
jetzt zu erinnern, aber ich erinnere mich auch, daß ich bei meiner Großmutter
bettelte, sie möge mich schon mittags abholen und mitnehmen unter das
Dach des Hauses, in dem sie zwei Zimmer bewohnte, das Haus des
Buchhalters der LPG, der Zigarren rauchte und eine Unzahl Bücher besaß,
auch das einzige Telefon der Siedlung, angezeigt durch ein rot
beschriftetes Emailleschild ‘Öffentliche Fernsprechstelle’ an der
Hauswand. Meine Oma hatte auch Bücher, Liebesromane mit dem Aufdruck
‘80 Pf’ und Balzac und Zola. Ich habe alle gelesen, die sie nicht
vor mir versteckte und doch erst etwas verstanden, als ich Zweigs Buch
über Balzac las, zehn Jahre später, und unerkannt als mein erstes
literaturwissenschaftliches Buch. Auch wenn ich andere Wissenschaften früher
verstanden habe, zu den Wissenschaften über die Autoren, in denen ich
mich in meiner Schulzeit zu verkriechen pflegte, hat es noch einmal zehn
Jahre gedauert. Montag war ein bedeutsamer Tag, mein Vater war zur
Arbeit gefahren, zu einer unsäglichen Nachtzeit nach Rostock oder zur
Baustelle der Autobahn nach Marienborn, meine Mutter fuhr auf dem
Fahrrad die zwei Kilometer der Allee ins Nachbardorf, in die Baracke der
LPG, und brachte mich an das Tor des Kindergartens. Hier war Montag der
Tag mit dem gehassten Essen, das Mittagsmahl, das in Kübeln aus der
LPG-Küche geliefert wurde, bestand an Montagen einer landesweiten
Tradition gemäß aus irgendeinem ‘einfachen’ Gericht, ein Glück,
wenn es Eintopf mit Bockwurst war, die ich zwar wegen ihres metallischen
Geschmacks nicht besonders mochte, aber dennoch herunterwürgen konnte,
und hier mussten die Kinder essen! Vielleicht weil so wenig gesprochen
wurde war Essen überhaupt das Gute was den Kindern mitzugeben war, und
wahrscheinlich waren die Kindergärtnerinnen nur die Opfer einer Horde
von Eltern, die immer wieder drohend nachfragten, ‘om hei woll uk
ordnt’lich ätten hätt’. Jedenfalls war Kartoffelsalat die
Katastrophe, ich hatte einfach einen unstillbaren Ekel vor
Kartoffelsalat, und nach einigen Szenen sahen mich die Kindergärtnerinnen
an jenen Montagen bereits am Vormittag verstohlen an, um abzumessen, wie viel
Kraft sie aufzuwenden hätten, um mir das Zeug auch diesmal
wieder mit Gewalt reinzuwürgen. Denn es musste gegessen werden, auch
wenn das in diesem Falle nur hieß, das ich die Nahrung umgehend in die
Kloschüssel zu erbrechen rannte sobald wir vom Tisch aufstehen durften.
Eine Zeitlang lief ich dann vor dem Essen weg, zwei Kilometer in die
LPG-Baracke meiner Mutter, wo sie neben zwei großen Rechenmaschinen
Lohnstreifen ordnete und sogar die Verfügung über ein Telefon hatte.
Dort durfte ich an einem Stuhl sitzen und malen, manchmal sogar mit
einer der Maschinen rechnen, die sich durch mein ungeschicktes Bemühen
alsbald verklemmten. Auf dem Kindersitz eines grauen Fahrrades fuhren
wir dann die kurvige Straße zurück in das Dorf, wo ich, wenn Montag
war, die Klassiker des deutschen Films, die das Fernsehen um acht zu
senden pflegte, ansehen durfte, im Wohnzimmer meiner Großmutter, eine
der seltenen Gelegenheiten, wo ich still sein mußte, wenn Willi Schwabe
oder wer auch immer seine Ansage beendet hatte. Die Wiesen und Felder um
das kleine Dorf waren schon hinter der Baumreihe, die aus den Fenstern
des dritten Stocks, wo wir wohnten, zu sehen war, war bereits eine Art
Grenze, wir spielten zwischen den Stämmen, aber gingen nie über das
Land, obwohl ich wußte, daß dort, hinter den Wiesen, Janow lag, das
Dorf, wo meine Großeltern väterlicherseits auf einem kleinen
Neubauernhof lebten. Dorthin kam ich lange nur in Begleitung meiner
Eltern, wie auch in die Kreisstadt, und selbst die hatte kein Kino, nur
die Bezirksstadt, und bitter genug, ist der einzige Versuch, dort mit
meinen Mitschülern ins Kino zu gehen, später, als ich schon in der
Schule war, gescheitert. Das holte ich alsbald auf, als wir in der Stadt
wohnten und ich mit dem Nachbarsjungen bekannt wurde, dessen Großmutter
die zentrale Position einer Platzanweiserin in einem der beiden städtischen
Kinos inne hat, wir gingen jede Woche mehrmals und umsonst und konnten
alles sehen, auch die Filme ab 18, nur gab es nicht genug Filme wie wir
Lust auf Kino hatten, so sahen wir die meisten mehrmals. Überhaupt, die
Stadt, in die ich, während meine Eltern das Haus bauten und wir die
Wochenenden in einem alten Bauwagen, der wie ein Zirkuswagen mit einem
Kanonenofen geheizt wurde, Ausflüge unternehmen konnte, hatte eine ganz
andere Dimension, nicht so wie auf dem Dorf, wo alles war, was den Augen
zu sehen gegeben war, und langsam auch ein wenig mehr, das Haus, wo
meine Oma wohnte, hinter dem Hügel, am Ende des Abhangs der
Lebensmittelladen, eine Käseglocke, Bonbongläser, manchmal
Dominosteine auf einem Glastablett, die Buswendeschleife, wo am
Wochenende mein Vater den schweren Lkw parkte, sonst jeden Morgen der
Schulbus in eine andere Sichtbarkeit fuhr. Der Busfahrer, gelegentlich
provoziert durch zu großen Lärm oder eine Papierkugel, die ihn nur
knapp verfehlte, bremste hart, fuhr auf den Randstreifen und drohte ohne
den Übeltäter identifizieren zu können, ’ik smiit juch ruut!’,
eine Drohung, die mich erstarren ließ, war doch draußen das Ortlose,
eine bedrohliche Fremde, die nur die Fenster diverser Fahrzeuge, also
nicht wirklich existent war. Der Ort, wo die Schule stand, hatte seine
eigenen Sichtbarkeiten, eine leicht geneigte Straße von der
Fernverkehrsstraße zur Schule, aber es gab keine Landschaft zwischen
jenem Ort und unserem Dorf. Immerhin hatten wir in Heimatkunde eine
Karte unseres Kreises gesehen, und fassten an einem Sonnabend, als der
Schulbus eine unendliche Zeit nicht kam, Mut, zu Fuß nach Hause zu
gehen, am besten querfeldein, so den Bogen einzusparen, den die große
Straße beschrieb. Aber die Tücken der Landschaft hatte die Kreiskarte
nicht verraten, so fanden uns die Eltern bereits nach dem zwanzigsten ängstlich
überkletterten Weidezaun, dem zehnten zögernd übersprungenen Bach, während
wir den so und so vielten Streit um die Himmelsrichtungen austrugen,
atemlos von der besorgten Suche. Ich ahnte nicht, das ich Landschaften
später nur noch in besonderen Momenten so wahrnehmen sollte, als ein
Feld voller Hindernisse, die es zu überwinden galt, als eine
Offenheit in alle Richtungen, bei der unendlich viele Wege einzuschlagen
waren. Die Stadt war etwas anderes, eine Struktur von sich verzweigenden
Wegen, hinter jeder Ecke begann eine neue Sichtbarkeit, und das was zu
sehen war, blieb belanglos, ohne Kenntnis der vielen wesentlichen Orte,
die in den Häusern verborgen waren. Später, in wirklich großen Städten,
war der Spaziergänger, der ich war, bedroht von dem völligen
Verschwinden der Sichtbarkeit, des Daseins an einem bestimmten Ort, und
Vertrauen schien nur die Kenntnis einer gewissen Struktur zu sein, wohin
man gelangen könne entsprechend der inneren Karte, die neben der Unzahl
von Häusern, die nicht der Wahrnehmung würdig sind, die Wohnungen der
Freunde, Geschäfte und Cafés
verzeichnet. Die Stadt, in die ich als Kind kam, öffnete sich in unzählige
Richtungen und es waren vorgezeichnete Wege, Wege die von anderen ständig
begangen werden, auf andere Weise unheimlich als die imaginären Pfade
über Wiesen, denen ein Wasserlauf ein Ende machen konnte. Und merkwürdig
gebrochen bleibt die Sicherheit, an der man zu messen pflegt, wie
erwachsen einer ist, die Sicherheit zu sagen, ‘es ist, es
existiert’, wenn man etwas bezeichnet, was jenseits jener kleinen
vergessenen Sichtbarkeit das Wissen um die Länder berührt, die wir in
den Fernsehnachrichten sehen wie das Wissen darum, daß es Orte für
mich gibt in so vielen Straßen so vieler Städte. |
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